Unsere Fragen beantwortete Dr. Sebastian M. Herrmann, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Amerikanistik der Philologischen Fakultät der Universität Leipzig & Leiter des Förderpojektes "SHRIMP_PODS2: Social Hypertext für Geisteswissenschaften".
20.04.2023: Aktuell befinden sich rund 40 Forschungs- und Entwicklungsprojekte in der zweijährigen Umsetzungsphase. Die Projekte entwickeln untereinander kompatible Lern- und Lehrangebote für das Ökosystem von “Mein Bildungsraum”. Was sind ihre Ziele und welche Herausforderungen haben sie auf dem Weg dorthin zu bewältigen? Wir haben für Sie bei den Projekten nachgefragt.
Dr. Sebastian M. Herrmann: Wir entwickeln mit SHRIMP_PODS eine Lehr-Lern-Plattform, die speziell auf die Bedürfnisse der Textarbeit in Geisteswissenschaften zugeschnitten ist. Unser Ziel ist es, die Grundlagen des kritischen geisteswissenschaftlichen Arbeitens, also etwa Annotieren, Kommentieren, Verknüpfen und Diskutieren – in den digitalen Raum zu übertragen. Innerhalb von SHRIMP_PODS wird mit und in PDF-Dateien gearbeitet. Das Besondere dabei ist, dass SHRIMP_PODS aus bloßem Text “Social Hypertext” macht.
Das bedeutet, dass die Dateien mit einer Interaktionsebene überzogen werden. Diese ermöglicht es Lehrenden, zusätzliche Informationen zum Lesestoff zu verlinken, Lesefragen zu hinterlegen und Lernpfade anzulegen. Die Lernenden wiederum können sich das Material eigenständig und mittels Annotationen erschließen, sowie mit anderen Lernenden direkt im Text kollaborativ erarbeiten und diskutieren, beispielsweise über das Hinzufügen von Kommentaren, Fragen, Tags, Links oder Reaktionen mittels Emoticons. So ermöglichen wir kollaboratives, soziales Lernen.
Dr. Sebastian M. Herrmann: Eine große Herausforderung für unser Projekt ist der Spagat zwischen Innovation und Tradition. Auf der einen Seite hat das Digitale allgemein – und digitaler Text speziell – enormes Potenzial für die Lehre. Dieses Potenzial wollen wir erschließen. Auf der anderen Seite geht es uns dabei letztlich um ganz traditionelle geisteswissenschaftliche Fähigkeiten.
Es ist ja so, dass die Lernenden, die jetzt an die (Hoch-)Schulen kommen, ganz andere Lesegewohnheiten haben als noch vor zwanzig Jahren. Einfach, weil sie mit digitalem Text aufgewachsen sind. Gerade in den Geisteswissenschaften und vor allem an den Universitäten führt das oft zu Klagen: Die Studierenden können keine langen Texte mehr lesen, heißt es dann, oder: Die Studierenden lesen nur noch oberflächlich, und so weiter. Wir sehen, dass das Leseverhalten, wie alles in der Kultur, im Wandel ist. Aber wir sehen darin auch Chancen und möchten die traditionellen Stärken der Geisteswissenschaften im Digitalen nutzen.
Dr. Sebastian M. Herrmann: Um ehrlich zu sein, gab es bisher keinen Moment, in dem es mit dem Projekt nicht vorangegangen wäre. Aber trotzdem gibt es natürlich ganz wichtige Quellen der Motivation. Die braucht man ja auch gerade dann, wenn ein Projekt mit Volldampf vorangeht und dadurch viel Kraft auf sich zieht.
Dadurch, dass wir im Projekt SHRIMP schon seit 2015 an Social Hypertext arbeiten, ist an erster Stelle die Praxis eine enorme Motivationsquelle: Es ist toll zu sehen, wie die Lernenden mit der Plattform arbeiten, wie Anmerkungen im Text auftauchen, wie sich Dialoge entfalten, wie ich das mit keinem anderen Lesemedium bisher gesehen habe. Das ist regelrecht begeisternd.
Eine zweite Motivationsquelle ist das Feedback von Studierenden und Lehrenden zur Plattform. Auch hier kommt die Motivation direkt aus der Lehrpraxis: zu sehen, was mit der Plattform konkret gemacht wird, und was die Nutzenden gerne (anders) machen würden, spornt einfach an.
Nunja, und dann ist da noch das wirklich großartige SHRIMP-Team: eine hochmotivierte, agile, kreative Gruppe, in der sich alle wechselseitig anspornen, Verantwortung übernehmen, in Notfällen einspringen, und das Projekt gemeinsam vorantreiben.
Dr. Sebastian M. Herrmann: Es gibt ein paar ganz konkrete Themen, bei denen wir uns von den kommenden Monaten viel versprechen: einen Austausch zur Mobilität von Lerninhalten, auch im Sinne von OER, Kollaboration der Lernenden und auch der Lehrenden, einen Austausch zu Modellen der nachhaltigen Betriebsstruktur für Lehr-Lern-Angebote und so weiter.
Aber wir haben auch etwas weiter gesteckte Hoffnungen für die Zusammenarbeit: Schon in der Konzeptionsphase von “Mein Bildungsraum” hat sich gezeigt, wie anregend und produktiv es sein kann, mit anderen digitalen Lehr-Lernprojekten und -Akteuren ins Gespräch zu kommen. Auf diesen konstruktiven, kollegialen Austausch hoffen wir auch in der kommenden Phase. Unter dem Dach von “Mein Bildungsraum” sind ja sehr unterschiedliche Akteure mit teils recht unterschiedlichen Interessen und Arbeitsschwerpunkten vereint. Manche arbeiten eher inhaltsorientiert, andere eher mit Blick auf Infrastrukturen, manche sehen Bildung als sozialen Auftrag, andere als Produkt, manche sind in erster Linie didaktisch interessiert, andere in erster Linie technisch. Es ist gut, und auch einfach faszinierend, dass diese verschiedenen Akteure jetzt hier anhand eines konkreten Projekts, eines konkreten gesellschaftlichen Auftrags, in den praktischen, sachorientierten Dialog miteinander kommen - um eine Infrastruktur zu schaffen, die zugleich komplex und flexibel genug ist, um für die Zukunft gerüstet zu sein.